Die deutschen Maßnahmen zur Corona-Bekämpfung sind national wie international überwiegend auf ein positives Echo gestoßen. Insbesondere wurden diese offenbar trotz erheblicher Grundrechtseinschränkungen zumeist als verhältnismäßig empfunden. Selbst die in Krisenzeiten unweigerlich einsetzenden Föderalismus-Debatten haben diesem Bild bislang dem Eindruck nach keinen bzw. nur wenig Schaden zugefügt.

Seit kurzer Zeit, mit Einsetzen der Wiederöffnungs-Debatte, werden die Auseinandersetzungen über unterschiedliche Maßnahmen aber nunmehr sehr viel kontroverser geführt. In juristischer Hinsicht entspinnt sich der Streit derzeit insbesondere um die „sog. 800-qm-Frage“.

 

Worum geht es?
Bundesregierung und Länder hatten sich Mitte April darauf verständigt, dass eine Wiederöffnung im Einzelhandel zunächst nur Läden bis zu einer Größe von 800 qm gestattet sein solle. Die 800-qm-Grenze ist aus der Rechtsprechung entlehnt, das diese für die Definition des Begriffes des „großflächigen Einzelhandels“ verwendet. Begründet wird die Differenzierung in erster Linie mit der großen Anziehungskraft und Sogwirkung, die vom großflächigen Einzelhandel ausgehe, und die zu Verkehrsströmen und Menschenansammlungen mit hohem Infektionsrisiko führe.

Die Bundesländer haben diese Vorgabe umgesetzt, allerdings in unterschiedlicher Ausgestaltung. Zum Teil wurde in den Verordnungen der Bundesländer die Möglichkeit vorgesehen, auch großflächigen Einzelhandel zu eröffnen, wenn dieser seine Verkaufsfläche so beschränkt, dass die 800-qm-Grenze wieder eingehalten wird. Fast überall finden sich ferner Ausnahmen für bestimmte Einzelhandelstypen, so müssen z. B. Bau- und Gartenmärkte, Auto- und Fahrradhandel oder Buchhandel die Grenzen in vielen Bundesländern nicht einhalten.

Die dabei vorgenommenen Differenzierungen zwischen unterschiedlichen Typen des Einzelhandels mussten unweigerlich dazu führen, dass sich diejenigen, die ihre Geschäfte infolgedessen nicht wiedereröffnen können, diskriminiert fühlen. Nunmehr fallen vermehrt die Begriffe „unverhältnismäßig“ und „verfassungswidrig“. Und es war damit nur eine Frage der Zeit bis in der letzten Woche die ersten Verwaltungsgerichte und nun auch die ersten Oberverwaltungsgerichte über die 800-qm-Grenze zu entscheiden hatten. Dies erfolgt in diesem Tempo natürlich nur in Verfahren des Einstweiligen Rechtsschutzes.

 

Was wurde bislang entschieden?
Mehrere Verwaltungs- und Oberverwaltungsgerichte haben die Regelungen der Verordnungen ihres jeweiligen Bundeslandes bisher für verfassungsgemäß gehalten (z. B. OVG Bremen, 1 B 109/20 u. a., OVG Niedersachsen, 13 MN 98/20, in Bezug auf Kaufhäuser auch OVG Saarland, 2 B 122/20). Das Bild ist insoweit aber keineswegs einheitlich. Insbesondere die folgenden Entscheidungen zeichnen ein anderes Bild.

a) Generelle Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit der 800qm-Grenze
Das Verwaltungsgericht Hamburg hat mit Beschluss vom 21.04.2020 (3 E 1675/20) erhebliche Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit der Differenzierung zwischen „normalem“ und „großflächigen Einzelhandel“ angemeldet. Konkret hatte sich das Gericht dabei auf einen möglichen Verstoß gegen die Berufsfreiheit (Art. 12 GG) bezogen. Die Regelung der Hamburgischen Verordnung hält das Gericht nicht für geeignet und erforderlich um die Berufsfreiheit einzuschränken. Zwar räumt es dem Verordnungsgeber einen Beurteilungsspielraum ein. Die vorgenommene Differenzierung hält es allerdings für damit nicht vereinbar. Hauptargumente des Gerichts waren die mindestens genauso effiziente Möglichkeit einer physischen Distanzierung im großflächigen Einzelhandel und die Einschätzung, dass Anziehungskraft und Sogwirkung von Geschäften nicht (in erster Linie) von ihrer Größe abhingen. Das dürfte nicht von der Hand zu weisen sein. Aufgrund einer Zwischenverfügung des Oberverwaltungsgerichts war die Regelung gleichwohl weiterhin wirksam.

Das Oberverwaltungsgericht Hamburg hat diese Einschätzung allerdings nicht bestätigt (Az. 5 Bs 24/60). Es stellt laut Pressemitteilung vom heutigen Tag angesichts der Komplexität der Gesamtsituation den Entscheidungsspielraum des Verordnungsgebers in den Vordergrund und meint, die Argumentation, dass von großflächigem Einzelhandel eine größere Anziehungskraft ausgehe, sei insoweit ausreichend. Dabei müsse die Regelung auch als Teil des Gesamtkonzepts der Freien und Hansestadt Hamburg zur Pandemiebekämpfung gesehen werden, von der auch zahlreiche andere Lebensbereiche betroffen seien. Eine vollständige Öffnung des Einzelhandels würde zu Unrecht den Eindruck erwecken, dass die Pandemie überstanden sei.

b) Gleichheitsverstoß zu Lasten bestimmter Einzelhandelsgruppen
In der wohl aufsehenerregendsten bisherigen Entscheidung in diesem Kontext hat der Bayerische Verwaltungsgerichtshof (20 NE 20.793) Regelungen der Verordnung des Freistaat Bayern für verfassungswidrig erklärt. Es stellt einen Gleichheitsverstoß (Art. 3 GG) fest – insbesondere wegen der Privilegierung bestimmter Einzelhandelstypen, insbesondere großflächigen Buch- und Fahrradhändlern. Es sei nicht nachvollziehbar, dass von diesen Geschäften keine vergleichbar große Anziehungskraft wie von sonstigem Einzelhandel ausgehe. Bei Buchhandlungen komme eine häufig hohe Verweildauer hinzu. Auch die in Bayern (bis dahin) fehlende Möglichkeit großflächigen Einzelhandel auf 800 qm zu begrenzen, sei in diesem Zusammenhang – auch wenn es darauf nicht mehr ankam – problematisch. Überraschend ist indes die Rechtsfolge dieser Entscheidung: das Gericht setzt die Regelungen nicht außer Vollzug, sondern lässt diese wegen der Pandemie-Lage und der kurzen verbleibenden Geltungsdauer (bis zum 3. Mai 2020) bestehen. Die Verfassungswidrigkeit (!) wird nur festgestellt.

Das OVG Schleswig (Az. 3 MR 9/20) hat ferner entschieden, dass die 800-qm-Grenze für Outlet-Centern vor dem Hintergrund des Gleichheitsgrundsatzes nicht gelten könne, da von diesen schon aufgrund ihrer Lage nicht die Anziehungskraft wie von Kaufhäusern in der Innenstadt ausgehe und sie typischerweise nicht mit öffentlichen Verkehrsmitteln erreicht werden. In ähnlicher Richtung argumentiert das OVG Saarland (Az. 2 B 143/20) im Hinblick auf Möbelhäuser, die sich ebenfalls in der Regel nicht in zentraler Innenstadtlage befänden. Von erhöhter Ansteckungsgefahr – z. B. gegenüber Bau- und Gartenmärkten – sei hier nicht auszugehen.

 

Was bedeutet das?
Grundsätzlich haben die 800-qm-Regelungen daher zwar vor den meisten Verwaltungsgerichten gehalten. Die Verordnungsgeber müssen aber genau darauf achten, dass hieraus keine willkürliche Privilegierung oder Schlechterstellung einzelner Einzelhandelsgruppen folgt.

Insgesamt entsteht der Eindruck, dass sich keines der befassten Gericht leicht getan hat, den 800-qm-Ansatz der Bundesregierung in seiner jeweiligen landesrechtlichen Ausgestaltung mit dem Grundgesetz in Einklang zu bringen. Dies funktioniert nur mit einer besonderen Betonung des gesetzgeberischen Entscheidungsspielraums. Immerhin ist das ein Zeichen für künftig ggf. noch erforderlich werdende Maßnahmen: Auch der Pandemiebekämpfung sind in Deutschland verfassungsrechtliche Grenzen gesetzt. Diesen Eindruck konnte man in den letzten Monaten nicht immer gewinnen.

 

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